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NSA Field Steation Teufelsberg - Berlin - Photo: Marla Singer

Warum ich immernoch Lost Places fotografiere

VERLASSENE ORTE

Meinen ersten Lost Place habe ich 1989 fotografiert, das E-Werk in der Berliner Wilhelmstraße, lange bevor der legendäre Club dort einzog. Eines sonnigen Sonntags zog ich mit meiner Praktika BX20 los und fand ziemlich schnell und einfach einen Zugang in das Gebäude. Damals gab es noch keine tausenden Urbexer in irgendwelchen wichtigen Facebook-Gruppen. Vermutlich gab es noch nicht einmal Begriffe wie Lost Place oder Urbex. Zu dieser Zeit sind die meisten Wichtigtuer unter den Urbexern noch mit der Trommel um den Weihnachtsbaum gerannt oder waren noch nicht geboren.

Mein Interesse bestand und besteht in erster Linie an guten Fotos. Ich wollte nicht der Erste und der Einzige sein, der Bilder von der Location hat. Ich wollte nicht meine Sammlung von verlassenen Orten erweitern. Ich war und bin Fotograf. Wenn mich ein Ort fotografisch nicht interessiert, dann fahre ich nicht dort hin, egal wie exklusiv und „neu“ die Location ist.

Die meisten Urbexer haben offensichtlich einen ganz anderen Plan. Sie wollen ihre Sammlung vervollständigen. Und sie wollen als Einzige die Blaue Mauritius unter den Lost Places. Warum auch immer. Ich verstehe auch nicht warum jemand Bierdeckel, Kronkorken oder was auch immer sammelt.

Das wäre ja an sich auch unproblematisch, wenn sich nicht viele der Urbexer so aufspielen würden und permanent andere maßregeln wollen. Mein Lieblingsspruch: „Verrate nicht den Ort damit die Vandalen dort nicht einfallen und alles kaputt machen“. Wie muss ich mir das jetzt vorstellen? Es gibt also Leute, die gezielt bei den Fotografen nach Lost Place Fotos mit Ortsangaben suchen, sich in ihr Auto setzen und 800 km fahren einzig um dort irgendetwas kaputt zu machen? Das glaubt ihr doch nicht wirklich, oder? 

Es ist ja eure Sache ob ihr irgendwem verratet in welcher abgerockten Bude ihr das Foto gemacht habt. Aber versucht nicht mich zu bevormunden oder mir irgendwelche Vorschriften zu machen! Ich bin erwachsen und ihr seid nicht meine Kindergartenerzieher. Wenn ich öffentlich poste wo ich ein Foto aufgenommen habe geht euch das gar nichts an. 
Und bitte, seid doch einfach ehrlich. Ihr verratet den Ort nur aus einem einzigen Grund nicht öffentlich; damit ihr möglichst die Bilder exklusiv in eurer Sammlung habt.

Wenn denn mal jemand bei Vandalismus oder Brandstiftung in einem Lost Place erwischt wird ist derjenige sicher in keiner wichtigen Lost Place Gruppe bei Facebook. Das ist der frustrierte, zugedröhnte 16-jährige, der in 500 Meter Entfernung von der Bude wohnt. Der braucht eure Ortsangabe nicht! … und der Schrottdieb war sowieso schon vor euch da und hat alles Wertvolle mitgenommen, natürlich ohne dass ihm ein Urbexer den Ort verraten hat. 

Fleischfabrik Berlin Lichtenberg – Duschen

 

Manchmal kann ich mich auch des Verdachts nicht erwähren, dass ein Fotografen-Kollege interessante Motive zerstört nach dem er seine Fotos gemacht hat damit er der Einzige ist der das tolle Bild auf dem Sensor hat. Oder zur „Verbesserung“ des Motivs werden Teile entfernt wie im Bild oben oder andere „Umbauten“ vor Ort vorgenommen. Der Vandale hätte vermutlich alles zerdeppert und vor allem nicht so gleichmäßig die Glasbausteine entfernt. Aber das ist natürlich nur eine Mutmaßung, erwischt wurde dabei meines Wissens nach bisher niemand. 

Aber es geht noch lustiger: Da werden dann Locations getauscht wie Briefmarken. Gibst Du mir 3 Blaue Mauritius gebe ich dir die The Penny Black. Der Tausch von Adressen ist also im Gegensatz zum Verschenken OK? Der Tauschpartner könnte nicht vielleicht insgeheim ein Schrottdieb oder Vandale sein? 

Was soll das? Ich tausche „meine“ Locations nicht. Sie gehören mir ja schließlich nicht! Manchmal hab ich den Drang die Wichtigtuer 500 Kilometer in die Wüste zu schicken. Aber ich mach das dann doch nicht, im tiefsten Innern bin ich doch ein netter Mensch. 😉

Bisher habe ich nie länger als 2 Stunden Internetrecherche gebraucht um herauszufinden wo ein bestimmter Lost Place, der mich fotografisch interessiert, ist. Die Anzahl der auf Bildern zu sehenden Locations, zu denen ich bisher keinerlei Informationen gefunden habe, ist sehr überschaubar. 

LEGAL? ILLEGAL? EGAL?

Regierungskrankenhaus der DDR in Berlin-Buch

 

Viele Lost Places habe ich mit der Zustimmung des Eigentümers oder Verwalters besucht. Vor allem wenn wir nachts zum Light Painting unterwegs sind. Das macht einfach nicht sonderlich viel Spaß 300 km mit dem Auto zur Location zu fahren, 150 kg Ausrüstung auszuladen und dann nach 10 Minuten von den Ordnungshütern vertrieben zu werden weil jemand die Lichter in der Dunkelheit gesehen und uns denunziert hat.

Ein zweiter Grund ist, dass wir unsere Bilder veröffentlichen und meist kommerziell verwerten. Das könnte ohne Zustimmung des Eigentümers durchaus rechtliche und somit finanzielle Schwierigkeiten geben, sollte dieser die Bilder sehen.

Einige Lost Places sind darüber hinaus unerwartet gut gegen unbefugtes Betreten gesichert, wie das Regierungskrankenhaus der DDR. Länger als 10 Minuten dürfte es nicht dauern, bis die Staatsmacht vor Ort eintrifft nachdem die dort installierte Alarmanlage ausgelöst wurde.

Den Nervenkitzel von illegalen Fototouren brauche ich mittlerweile überhaupt nicht mehr. Es gibt kaum Locations wo ein Besuch wirklich lohnenswert ist, der Eigentümer mich legal nicht rein lässt und die Bude nicht so gesichert ist, dass ich ungesehen rein und raus komme ohne etwas zu beschädigen. 

VIER BEEINDRUCKENDE VERLASSENE ORTE

Ich hab nicht gezählt, wie viele verlassene Orte ich bisher mit meiner Kamera besucht habe. Ich führe keine Liste, ich habe keine Datenbank, ich markiere die Bilder nicht auf einer Karte. Und wenn ich nach zwei Jahren vergessen habe wo dieser oder jener Lost Place war, dann war der Besuch dort nicht so sehr wichtig. Aber einige Orte vergisst man nie:

HEILSTÄTTEN BEELITZ

Es gibt auch einige andere leerstehende ehemalige Heilstätten, meist nach dem Zweiten Weltkrieg von den sowjetischen Streitkräften genutzt. Grabowsee, Hohenlychen um mal zwei zu nennen. Aber die Heilstätten in Beelitz sind immer noch der beeindruckendste Lost Place den ich bisher besucht habe. Sicher, es gibt mittlerweile hunderttausende Fotos aus Beelitz. Gefühlt jeder, der eine Kamera richtig herum halten kann war schon mal dort. Aber das hat keinen Einfluss auf meine Fotos, meine Erlebnisse, meine Gedanken und Gefühle die ich von meinen zahlreichen Besuchen mitgebracht habe. Ich will Anerkennung für das gute Foto und nicht für die Entdeckung eines neuen, unbekannten Lost Place.
Ein ganz besonderes Erlebnis war ein nächtlicher Besuch. Passend zu den Geistergeschichten zog kurz nach unserem Eintreffen ein schweres Gewitter auf. Die ganze Nacht hindurch drangen undefinierbare Geräusche durch die Flure an unsere Ohren. Aber, wir haben es unbeschadet überstanden. 

DIE KIRCHE IN ŻELISZÓW (POLEN)

Eigentlich unvorstellbar, diese evangelische Kirche steht seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs leer und verfällt seit dem. Bis vor einigen Jahren einige Leute einen Verein zum Erhalt dieses einmaligen Bauwerks gegründet haben. Mittlerweile konnte durch Spendengelder das Dach abgedichtet werden und somit der weitere Verfall gestoppt werden. 

Trotz des schlechten Zustandes war ich sofort von der einmaligen Architektur beeindruckt. Von außen ist das Gebäude eher unscheinbar. 

DIE KIRCHE IN GOSZCS (POLEN)

Noch eine verlassene ev. Kirche in Polen. Der bauliche Zustand ist wesentlich besser als in der Kirche in Żeliszów, ganz im Gegensatz zum benachbarten Schloss. Da steht fast nur noch die Fassade. 

KAUFHAUS GÖRLITZ

Das Kaufhaus Görlitz ist eigentlich kein Lost Place. Das Kaufhaus steht zwar im Moment leer, aber in nicht allzu ferner Zukunft wird das Kaufhaus wieder als solches die Türen für die Kunden öffnen. Bis dahin wird das Gebäude für verschiedene Veranstaltungen wie Modenschauen und ähnliches genutzt… oder den Light Paintern nachts zur Verfügung gestellt. Den Artikel über unseren Kaufhausbesuch findest Du hier.
Dieses beeindruckende Gebäude ist das einzige gut erhaltene Jugendstilkaufhaus in Europa. 

Darüber hinaus habe ich einige sehr beeindruckende Lost Places besucht ohne dort wirklich gute Fotos gemacht zu haben wie beispielsweise das Objekt 5001 (Ausweichführungsstelle des Nationalen Verteidigungsrates der DDR). Der Sohn des ehemaligen Kommandanten des Bunkers führte uns durch die Anlage; einen besseren Begleiter kann man sich nicht wünschen. Auch solche Erlebnisse möchte ich nicht missen, aber das sind für mich zwei verschiedene Sachen. Gute Fotos oder interessante Geschichte. Beides gleichzeitig hat man zwar in seltenen Fällen auch, aber das ist dann schon fast ein Lottogewinn.

WARUM TUE ICH MIR DAS ALLES AN?

Wie Du sehen kannst dienen uns viele Lost Places zuerst einmal als Kulisse für unser Light Painting und Light Art Bilder. Das Finden und Erkunden von verlassenen Orten ist natürlich auch spannend und interessant. In fast allen Locations kommen uns allerdings meist sofort mehrere Ideen für unsere Light Paintings. Viele Locations können oder wollen wir aus den verschiedensten Gründen nachts allerdings nicht besuchen. 

Der Aufwand zum Finden und Besuchen der Lost Places ist im Vergleich zum Aufwand für unser Light Art und Light Painting Bilder eher gering. 

Meist schlage ich zwei Fliegen mit einer Klappe. Schöne Bilder der Location bei Tageslicht und später schöne Light Paintings im beeindruckenden Lost Place. 

Sicher gibt es auch viele interessante Orte die frei, legal und gefahrlos zugänglich sind aber irgendwie reizt mich immer noch der marode Charme vieler verlassener Gebäude. 

Auch wenn mir große Teile der Urbex-Szene immer mehr auf den Sack gehen hab ich mir bisher das Fotografieren verlassener Orte nicht vermiesen lassen. Aber den intensiven Besuch und Austauch in den einschlägigen Facebook-Gruppen haben sie mir schon vermiest. Der Umgangston ist dort meist alles andere als freundlich. Entweder heult der eine rum weil der andere ihm nicht verrät wo die Location ist, der andere maßregelt Leute die sich „falsch“, also nicht entsprechend dem göttlichen „Urbexer-Code“ verhalten und der dritte macht abfällige Bemerkungen über die schlechte Qualität der Bilder.

In diesem Sinne allzeit gutes Licht und immer einen sicheren Stand im abgerockten Lost Place.
Sven

Sven Gerard

Sven Gerard, Jahrgang 1969, geboren und aufgewachsen in Berlin. Er fotografiert seit frühester Jugend mit großer Leidenschaft. Neben dem fotografischen Erkunden zahlreicher beeindruckender verlassener Orte, widmet er sich seit mittlerweile 10 Jahren intensiv dem Lightpainting. Sein umfangreiches Wissen teilt er auf seinem Blog „Lichtkunstfoto.de“, weiteren Publikationen und in seinen Workshops. Darüber hinaus organisiert er Veranstaltungen zum Thema Lightpainting, wie „Light Up Berlin“. Gerard lebt gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin in Berlin und hat einen erwachsenen Sohn. Sven Gerard was born in 1969 and grew up in Berlin. He has been a passionate photographer since his early youth. In addition to photographically exploring numerous impressive abandoned places, he has been intensively involved in light painting for 10 years now. He shares his extensive knowledge on his blog ‘Lichtkunstfoto.de’, other publications and in his workshops. He also organises events on the subject of light painting, such as ‘Light Up Berlin’. Gerard lives in Berlin with his partner and has a grown-up son.

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